Ein Koffer steht einsam am Bahnsteig. Der Blogartikel "Ich hab noch einen Koffer in Berlin" beschreibt wie wichtig langjährige Beziehungen sind.

Ich hab noch einen Koffer in Berlin

Jetzt möchte ich hier einmal einen sehr aktuellen und äußerst persönlichen Reisebericht verfassen. Der natürlich auch viel mit Silberhorizont und dessen neuen Ausrichtung zu tun hat.

Denn angesichts der gegenwärtigen Situationen in unserer Gesellschaft möchten auch wir dem gemeinsamen Miteinander mehr Bedeutung neben der Partnersuche allein einräumen. So  stieß ich bei meinen entsprechenden Recherchen auch auf das Buch „Co Creation“.

Da ich die Aktivitäten des Buchautor und Coach Veit Lindau schon seit vielen Jahren verfolge, hatte ich mir vorletzte Woche in den Kopf gesetzt, ihn auf seiner Vortragsreise „Co-Creation” unbedingt live zu erleben. Doch leider ich war nicht schnell genug und die Karten für den Münchner Abend waren sofort vergriffen. Aber mit Glück konnte ich ganz kurzfristig eine Karte für Berlin ergattern. Und somit hatte ich gleich einen guten Grund diese Stadt mal wieder zu besuchen. Immerhin war Berlin mein Studien- und Arbeitsplatz und für einige Jahre mein Lebensmittelpunkt. Ich freute mich  nun nicht nur auf einen interessanten Vortrag, sondern auch auf das Besuchen altvertrauter Orte und das Schwelgen in Erinnerungen mit Menschen, mit denen ich schon lange verbunden bin.

Als ich dazu das Zugticket buchen wollte musste ich angesichts der Preise doch ziemlich schlucken. Puh, so teuer sollte die Angelegenheit eigentlich nicht werden. Doch nicht nur viele Wege führen nach Berlin, es gibt auch diverse Möglichkeiten nach dort zu gelangen. Die kostengünstigste wäre zwar das Deutschlandticket, doch der Zeiteinsatz echt hoch und nicht bequem. Deshalb wählte ich den Flixbus in der Nacht. 

Erna

Mit dem Flixbus nach Berlin verbindet sich für mich allerdings auch eine recht traurige Zeit. Über drei Jahre hinweg hab ich ihn oft genutzt, um von München aus mein ehemaliges Kindermädchen während ihrer schweren Erkrankung etwas zu betreuen. 

Ich stamme aus einem Geschäftshaushalt; meine Eltern hatten in Hoyerswerda eine Tankstelle mit Autohaus und Werkstatt und waren sehr stark eingebunden. So kam die damals 16 jährige Erna in unseren Haushalt, um sich um diesen und um mich zu kümmern. 

Seither und über viele lange Jahr hinweg ist sie für mich eine Vertraute geworden und das trotz aller politischen Wirrnisse der Vergangenheit. Sie musste nämlich schon 1953  mit ihrem damaligen Verlobten ihr Heimatdorf in der Lausitz verlassen und sie wohnten seit dieser Zeit im Wedding, dem Westteil von Berlin. 

Ihr Heim wurde zum Treffpunkt unserer Familie, nachdem meine beiden großen Brüder in den 50er Jahren auch in Richtung West gewandert waren. Hier konnten wir dadurch gemeinsam Geburtstage feiern und meine Mutter ihren Söhnen etwas Gutes tun.  

Da denke ich an eine legendäre Geschichte beim Treffen zum Geburtstag meiner Mutter. Es war das letzte vor dem Bau der Mauer. Während meine Mutter samt großem Topf mit Hühnerbrühe und selbstgemachten Nudeln getrennt von uns, unbehelligt den Bahnhof Friedrichstraße passieren konnte, mussten mein Vater und ich die Bahn verlassen. Wenigstens Fleisch und Nudeln waren gerettet, denn wir hatten bewusst getrennt. Ich hatte den Kuchen, mein Vater das kleine Köfferchen. Doch der Schlafanzug meiner Mutter in ihm brachte mir mit 13 Jahren eine Nacht mit Verhören im Untersuchungsgefängnis ein. Aber meine Mutter kam uns suchen und die Wohnung zu Haus war inzwischen auch inspiziert und so wünschte man uns am Morgen dann noch eine gute Geburtstagsfeier.
Ja, ja, die deutsch-deutsche Geschichte.

Auch der Mauerbau hat an unserer Verbindung zu Erna nichts geändert, Sie blieb ein Teil unserer Familie und ich bin froh, dass ich an ihrem Lebensabend mit meinen Besuchen noch etwas für sie tun konnte. Es tat mir gut. Im November vor 5 Jahren ist sie verstorben und seitdem war ich nicht mehr in Berlin.

Regine

Eigentlich begann meine aktuelle Reise in die Vergangenheit sogar noch vor der nächtlichen Fahrt. Denn just an diesem Tag rief mich eine alte Schulfreundin (aus der Grundschulzeit) an. „Seit zwei Jahren will ich dich anrufen und immer kommt mir was dazwischen. Jetzt war ich gerade beim Kartoffel Schälen, als ich wieder daran gedacht habe. Und bevor ich es wieder aufschiebe habe ich jetzt die Kartoffeln sein gelassen und zum Telefonhörer gegriffen“. Oh, was habe ich gelacht, denn mir ging es genauso. In beiden Jahren haben wir es mit den gegenseitigen Geburtstagsanrufen einfach nicht hinbekommen, nicht einmal zu unserem jeweiligen 75.. Dabei liefert sie mir doch immer auch die neuesten Nachrichten aus der Heimat, die ich schon mit 17 Jahren verlassen habe.

Brunhilde

Natürlich wollte ich die lange Fahrt nach Berlin nicht nur für einen Tag und einen Vortrag machen. Und somit stand die Frage nach der Übernachtung im Raum. Gut, wenn man am richtigen Ort passend vernetzt ist. Also griff ich zum Telefon und fragte eine liebe 95 jährige Bekannte: „Hättest du nächste Woche für drei Nächte ein freies Bettchen für mich?“

Brunhilde kennt mich seit meiner Geburt. Denn sie bewohnte sie mit ihrer Familie das oberste Stockwerk im Haus meiner Eltern. Nach ihrer Heirat zog sie zu meinem Glück nach Leipzig. So konnte ich dort meine Lehrzeit als Damenmaßschneiderin beginnen, denn bei ihr fand ich Unterschlupf. Laut Gesetz durfte ich in Leipzig nämlich keinen Wohnraum beanspruchen.

Viele Jahre blieben wir in Verbindung, selbst meine Ausreise in den Westen hatte daran nichts geändert. Auch heute noch telefonieren wir regelmäßig miteinander. Sonst wäre ich auch nie auf die Idee gekommen, eine Dame in diesem Alter derart zu „überfallen“.

Was mich an Brunhilde so begeistert ist ihre völlige Klarheit und ihr nach wie vor ungebrochenes Interesse an den aktuellen Geschehnissen. Und wie ich wieder erfahren durfte kann man mit ihr auch heute noch herrlich diskutieren.

Moni

Und schließlich gibt es in Berlin eine langjährige Freundin. Zu ihr hatte längere Zeit der unterschiedliche Umgang mit den neuen Kommunikationsmitteln enorme Kontaktstörungen hervorgerufen. Denn während ich direkte Gespräche bevorzuge, beschränkt sie sich gern auf das kommentarlose Versenden von Bildchen per WhatsApp. Womit ich nun wiederum nicht so viel anzufangen weiß. Richtig tücksch ließ ich den Kontakt deshalb ohne weitere Erklärung brach liegen.

So war es höchste Zeit und jetzt die beste Gelegenheit, diese Sache persönlich zu bereinigen. „Hallo Moni….“ kaum waren die ersten Worte am Telefon gesprochen, war die alte Freundschaft wieder da, als wäre das letzte Gespräch erst gestern gewesen.

„Weißt du, dass wir uns inzwischen 48 Jahre kennen?“ fragte sie. Ich hatte das und vieles andere vergessen. Wir hatten uns an diesen vier Tagen viel zu erzählen.

Die Kraft dauerhafter Kontakte

Auf der Rückfahrt von Berlin (wieder Nachtbus) habe ich mir Gedanken darüber gemacht wie diese so langjährigen Kontakte möglich sind. So komplett ohne gegenseitiges Gebrauchtwerden. Als so unterschiedliche Persönlichkeiten mit so unterschiedlichen Lebensformen, mit zeitweise sehr verschiedenen politischen Ausrichtungen. Diese langjährigen Kontakte (76 Jahre, 71 Jahre, 69 Jahre, 48 Jahre), die trotz vorhandenem Konfliktpotential Bestand hatten – und noch immer haben – sind für mich eine Wohltat.

Demgegenüber habe ich in 41 Jahren München nicht annähernd solche Kontakte knüpfen können. Das kann doch nicht nur an mir liegen, oder?

Auf jeden Fall werde ich mich über dieses Thema an dieser Stelle noch öfter mal auslassen und auch von aktuellen Begebenheiten berichten. Denn mit dem Thema Beziehungen befasse ich mich schon recht lange.

Bildnachweis: © wirestock, Freepik

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